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Kyiv mayor Vitali Klitschko: There can be no compromise (Die Zeit)

04.02.2022

Die Zeit paid a visit to Kyiv mayor Vitali Klitschko (in German).

Die Menschen sitzen in den Cafés, die Stadt bereitet sich auf den Ernstfall vor:
Ein Besuch bei Bürgermeister Vitali Klitschko in der ukrainischen Hauptstadt Kiew 

VON CATHRIN GILBERT 

Die Maschine landet um zwei Uhr in der Nacht auf Montag, Schneetreiben in Kiew. Und schon im Flughafen-Terminal ist er überall: Vitali Klitschko, Ex-Soldat, ehemaliger Box-Weltmeister im Schwergewicht aus Hamburg, mit lockerem Pulli und kantigem Gesicht, auf Bildschirmen und Plakaten. Er ist jetzt Bürger- meister der ukrainischen Hauptstadt, und er hat vor Kurzem gesagt, dass er mit dem Sturmgewehr in der Hand an der Front kämpfen will, wenn Russland angreifen sollte. Russische Truppen stehen hinter der Grenze zu Belarus, und die ist nur gut 100 Kilometer weit weg. Auf dem Weg zum Hotel in der Innenstadt fragt der Taxifahrer: “Germany?” – “Yes” – “Business?” – “Sort of” – “Ah, Klitschko” – als gäbe es niemanden sonst von Gewicht in Kiew.

Ein paar Stunden später in der Altstadt: Klitschko betritt sein Arbeitszimmer im Rathaus und streckt einem die Faust entgegen. Die normale Begrüßung in Corona-Zeiten, schon klar, trotzdem zuckt man kurz zurück. Der Mann ist zwei Meter groß, Wettkampfgewicht 112 Kilogramm. Er hat mit seinen 50 Jahren noch immer die Figur eines Sportlers, trägt sein braunes Sakko wie ein Boxer.Der gebürtige Ukrainer, der mit seinem Bruder Wladimir zum Boxen nach Deutschland kam, weltberühmt und reic

h wurde und nun als Bürgermeister zurück in Kiew ist, spricht verblüffend leise, ein Deutsch mit schwerem Akzent. Nur 30 Minuten sind für dieses Gespräch eingeplant, dann müsse er leider los, weiter “den Ernstfall planen”, sagt er. 

DIE ZEIT: Herr Klitschko, in Ihrem ersten Le- ben als Box-Weltmeister trugen Sie den Spitznamen “Dr. Eisenfaust”, weil Sie in Sportwissenschaften promoviert haben und bei über 80 Prozent Ihrer Siege den Gegner k. o. schlugen. Droht Ihnen jetzt in Ihrem zweiten Leben als Bürgermeister von Kiew der schwerste Kampf? 

Vitali Klitschko: Auf jeden Fall war es einfacher, Weltmeister im Schwergewicht zu werden, als Bürgermeister von Kiew zu sein. Ehrlich. Beim Boxen hatte ich immer nur einen Gegner, in der Politik kommen sie von allen Seiten, und niemand hält sich in der Politik an irgendetwas. Da setzt es auch mal fiese Schläge unter die Gürtellinie oder in den Rücken. Im Kampf war ich nur für mich selbst und meine Fans verantwortlich, hier muss ich gerade das Leben von Millionen Menschen beschützen. 

ZEIT: Russlands Präsident Wladimir Putin hat eine gewaltige Armee an den Grenzen der Ukraine zusammengezogen, wohl mehr als 100.000 Soldaten mit schwersten Waffen, genug für eine Invasion. Rechnen Sie mit Krieg? 

Klitschko: Lassen Sie mich eines vorwegschicken: Wenn ich sage, dass ich einen Angriff auf die Ukraine nicht ausschließe, dann würde ich ungern wieder irgendwo lesen, dass wir hier in meinem Land panisch sind. Das sind wir einfach nicht. Versetzen Sie sich doch mal in uns hinein. Noch vor zehn Jahren konnte sich hier niemand vorstellen, dass Russland mal einen Teil unseres Landes einnehmen würde und dass in diesem Krieg 13.000 Ukrainer sterben würden. Und dann kam es genau so, als Putin die Halbinsel Krim, Donezk und Lugansk eingenommen hat. Heute jedoch, nachdem dieser Albtraum wahr wurde, wollen wir hier auf gar keinen Fall die Gefahr noch einmal unterschätzen. Wir sind nicht hysterisch, sondern realistisch. 

ZEIT: Der ehemalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder wirft den Ukrainern “Säbelrasseln” vor, als würde die Ukraine Russland drohen und nicht umgekehrt. 

Klitschko: Bei Schröder frage ich mich wirklich, für welches Land er eigentlich spricht als deutscher Politiker. Wohl eher für Russland und seinen Freund Putin als für Deutschland, oder? 

ZEIT: Die USA und Nato-Experten warnen, ein russischer Angriff könne bald bevorstehen. Die Amerikaner haben schon angefangen, ihr Botschaftspersonal aus Kiew zu evakuieren. 

Klitschko: Eine solche Evakuierung gab es noch nie in der Geschichte unserer 30-jährigen Unabhängigkeit. Aber ich verstehe das. Eine wahnsinnige Menge an Soldaten, an Flugzeugen, an Panzern steht an unseren Grenzen. Das ist kein Spaziergang. Wir wissen noch genau, wie Russ- land 2008 Georgien angegriffen hat. Wir hoffen und wir wünschen uns, dass sie uns nicht attackieren. Aber niemand, der noch bei Trost ist, kann eine Aggression der Russen ausschließen. 

ZEIT: Von Norden her, von belarussischem Staatsgebiet aus, wären russische Truppen, die dort gerade offiziell für ein Manöver sind, im Ernstfall wohl schnell in der Stadt Ihres Amtssitzes. Was würde das für die Hauptstadt bedeuten? 

Klitschko: Es gibt hier keinen Menschen, keine Familie, die nicht über einen möglichen Krieg spricht. Alle haben Angst – das wäre eine Katastrophe, wenn so etwas passiert. Wir kennen den Traum Putins, daraus macht er ja kein Geheimnis. Er möchte das sowjetische Imperium wiederaufbauen. 

ZEIT: Putin bezeichnet den Zusammenbruch der Sowjetunion als das größte Desaster des 20. Jahrhunderts.

Klitschko: Ohne die Ukraine kann er sich diesen Traum nicht erfüllen. Deshalb nehmen wir das auch hier in Kiew sehr ernst. 

ZEIT: Wie bereiten Sie die Hauptstadt darauf vor?

Klitschko: Wir werden nicht einfach warten, ob etwas passiert. Wir proben den Ernstfall. Alle Männer mit militärischer Erfahrung hier in der Stadt wurden bereits rekrutiert. Die werden unsere Stadt verteidigen. Wir bereiten Unterkünfte vor, in denen die Zivilbevölkerung sich verstecken kann. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Russen die Zivilbevölkerung bombardieren würden. Trotzdem habe ich entschieden, auch auf die schlimmsten Varianten vorbereitet zu sein. 

ZEIT: Die Russen fordern von der Nato, Truppen aus den östlichen Mitgliedsstaaten abzuziehen und der Ukraine auf ewig die Mitgliedschaft zu verwehren. Das lehnt der Westen bislang ab. Halten Sie einen Kompromiss für denkbar? 

Klitschko: Nein, es kann keinen Kompromiss geben. Die Ukraine hat zusammen mit den Russen, den Amerikanern, den Engländern die Budapester Vereinbarung unterschrieben. Da wurde uns die Unabhängigkeit garantiert. Die Souveränität. Und trotzdem hat bis heute keiner die Russen in der Ostukraine gestoppt. 

ZEIT: Sie waren selbst mal Soldat. Die russischen Truppen stehen jetzt im Norden, Osten und Süden der Ukraine – eine Umklammerung in Hufeisenform. Von wo, glauben Sie, droht die größte Gefahr? 

Klitschko: Die Fachleute unseres Militärs haben das alles kalkuliert. Denn es gibt einen guten Spruch, der lautet: Willst du Frieden haben, musst du dich auf den Krieg vorbereiten. 

ZEIT: Ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj hat am vergangenen Freitag gesagt, der Westen übertreibe die Kriegsgefahr und schüre Panik. Die Ukrainer hätten sich an die Bedrohung durch Russland seit der russischen Annexion der Krim gewöhnt. Wieso gibt sich Selenskyj so gelassen? 

Klitschko: Tja, das sollten Sie ihn mal selber fragen. Es ist wirklich merkwürdig. Mal sagt er, es komme nicht zum Krieg, und dann wieder bittet er um Verteidigungswaffen. 

ZEIT: Aber gefährdet Selenskyj mit solchen Ansagen nicht Hilfen aus dem Ausland? Wenn alles halb so wild ist, warum sollen zum Beispiel die Deutschen dann über Waffenlieferungen reden? 

Klitschko: Deshalb bitte ich Sie ja, ihn selbst zu fragen. 

ZEIT: Will Präsident Selenskyj, ein ehemaliger Fernsehkomiker und politisch eher Ihr Gegner, damit vor allem die ukrainische Wirtschaft schützen? 

Klitschko: Wir haben enorme ökonomische Verluste, unsere wirtschaftliche Entwicklung ist momentan eingefroren. Trotzdem, ich persönlich sehe das so: Ich habe einen Eid geschworen, mein Heimatland zu verteidigen. Und ich bin immer bereit, das zu machen. Ich würde sehr gern eine Botschaft an all unsere europäischen Partner senden: Wir wollen keinen Krieg, wir drohen niemandem. Wir sind nicht aggressiv. Aber wir wollen nicht Teil eines russischen Imperiums werden. Wir wollen Teil der europäischen Familie sein. Ein demokratisches, modernes Land. 

Klitschko wirkt nervös, er hat Ringe unter den Augen, immer wieder klingelt sein Handy, er drückt die Anrufer weg. Wie viele Profisportler hat er lange ein internationales Leben geführt. Seine Tochter ist an der Uni in den Niederlanden, ein Sohn studiert in Großbritannien, der andere macht ein Praktikum in Israel, Vitalis Bruder Wladimir pendelt zwischen Hamburg und der Ukraine. Das Boxen lernten die beiden als Kinder auf einem Stützpunkt in der Tschechoslowakei, ihr Vater war Offizier der sowjetischen Luftwaffe. Er brachte es zum Generalmajor und Militärattaché der Ukraine in Berlin und bei der Nato. 

Vitali Klitschko war beteiligt an der ukrainischen Maidan-Revolution im November 2013, gründete danach seine Partei Udar (deutsch: “Der Schlag”) und wollte eigentlich Präsident werden. 2014 wurde er Bürgermeister von Kiew – und erlebte so die Niederlage auf der Krim, bei der sich die massive Überlegenheit der russischen Armee zeigte. Seitdem wurde die ukrainische Armee modernisiert, auch mit Milliardenhilfe aus den USA. Trotzdem hätte sie in einem Konflikt mit Russland wohl kaum eine Chance. Luftwaffe und Luftabwehr sind hoffnungslos veraltet, die Marine hätte russischen Kriegsschiffen so gut wie nichts entgegenzusetzen. 

ZEIT: Herr Klitschko, Sie haben schnelle Hilfe des Westens gefordert. Wie sollte die aussehen? 

Klitschko: Die russische Armee ist eine der am besten bewaffneten Armeen der Welt. Deshalb brauchen wir Unterstützung, auch aus Deutschland. Diese militärische Unterstützung könnte Putin aufhalten. Wenn er sieht, dass der Angriff für seine Soldaten blutig enden könnte, dann greift er vielleicht nicht an. Wenn wir aber schwach sind, ist doch die Hürde viel kleiner. 

ZEIT: Wenn Sie eine Wunschliste an Nato- Staaten schicken würden – was stünde darauf? 

Klitschko: Wir brauchen Waffen zur Verteidigung jeglicher Art. 

ZEIT: Die Bundesregierung lehnt die Lieferung potenziell tödlicher Waffen an die Ukraine ab, da sie ein Krisengebiet ist. Berlin will auch keine Defensivwaffen liefern, wie Flugabwehrsysteme oder Panzerabwehrwaffen. Das ist seit Jahrzehnten deutsche Politik, wenngleich nicht immer konsequent umgesetzt. 

Klitschko: Noch mal: Wir greifen keinen an! Wir drohen niemandem! Wir wollen unsere Souveränität verteidigen. Das ist doch eine ganz andere Geschichte. Wenn wir tödliche Waffen besitzen, dann ist das doch ein Grund, uns nicht anzugreifen. 

ZEIT: Sie kennen die Bundesrepublik besser als die meisten Ihrer ukrainischen Politiker-Kolle- gen. Deutschland ist zwar einer der größten Waffenlieferanten, aber mit Blick auf die deutsche Geschichte bei Ausfuhren in Krisengebiete zurückhaltend. Können Sie das nicht verstehen?

Klitschko: Nein, in diesem Fall kann ich das nicht nachvollziehen. Es geht doch hier nicht nur um die Ukraine. Es geht um die Stabilität ganz Europas. Da kann man doch nicht Entscheidungen mit der Vergangenheit erklären, sondern sollte die Zukunft sichern und gestalten. Hilfe für uns würde nicht nur die Region hier stabilisieren, sondern ganz Europa. Man muss strategisch denken. Ich verstehe, dass Deutschland keine Waffen an ein aggressives Land liefert. Aber es ist doch etwas ganz anderes, wenn man sich verteidigen will. 

ZEIT: Der Westen droht vor allem mit Wirtschaftssanktionen, auch gegen Putins direktes Umfeld. Reicht das, um Russland abzuschrecken? 

Klitschko: Natürlich sind Sanktionen ein wichtiges Mittel. Aber das ist ja nur ein Glied in einer Kette von wichtigen Instrumenten. Sanktionen allein reichen nicht aus. 

ZEIT: Immerhin liefert Deutschland nun 5000 Helme an die Ukraine, nachdem Ihr Land Helme angefordert hat.

Klitschko: Hier kann ich nur sagen: Danke! Aber mit Helmen allein werden wir den Krieg nicht verhindern und uns verteidigen können. 

ZEIT: Die Deutschen hätten ein Druckmittel gegen Russland: Sie könnten damit drohen, die Gas-Pipeline Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland nicht in Betrieb zu nehmen – das würde für Russland massive Einbußen bedeuten. Bislang aber heißt es allenfalls, dass diese Option nach einer Invasion auf dem Tisch liege. 

Klitschko: Wenn Deutschland die Ukraine unterstützen will, dann muss es sich von Nord Stream 2 verabschieden. Das wäre ein wichtiges Instrument. In so einem schwierigen Moment muss Deutschland handeln. Natürlich verstehe ich, dass Nord Stream 2 gut für die deutsche Wirtschaft wäre. Aber Abhängigkeit von Russ- land ist gefährlich. Es ist doch kein Geheimnis, dass die Russen nicht nur die Ukraine wieder in ihre Einflusszone bringen wollen. Die Unabhängigkeit der baltischen Staaten gefällt Putin genauso wenig. Da gibt es auch ein Sprichwort: Der Hunger kommt beim Essen. Es geht Putin um ein Imperium. 

Die halbe Stunde ist vorbei. Klitschko greift nach seinem Handy und deutet Richtung Tür. Draußen in der Altstadt von Kiew geht das Leben weiter. Ein Winterwunderland, die Sonne scheint. In den Cafés rund ums Rathaus sitzen auffallend viele junge Frauen. Es gibt veganes Essen und Bio-Smoothies. Darum herum die- selben Läden wie in New York, München oder Paris: Nike, Zara, Cartier. Kiew wirkt wie eine ganz normale westliche Stadt. Zugleich läuft die internationale Diplomatie heiß. Am Montag verhandelte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit Putin, am Dienstag US-Außen- minister Tony Blinken mit Lawrow, und am selben Tag traf sich Großbritanniens Premier Boris Johnson in Kiew mit Selenskyj. 

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