Internationale Experten attestieren, dass Kiew vergleichsweise sehr gut auf die Corona-Krise vorbereitet war.
Wir haben die Situation in China, in Italien, in Spanien und in anderen Ländern, in denen das Virus am härtesten zugeschlagen hat, sehr genau beobachtet. Wuhan, wo die Pandemie ihren Anfang genommen hat, ist die Partnerstadt von Kiew. Die Gesundheitsexperten aus Wuhan haben uns ihre Erfahrungen und Expertise zur Verfügung gestellt. Wir haben die Situation, wie sie in Italien und Spanien herrschte, in Modellen auf Kiew übertragen und danach keine Zeit verloren. Wir haben eine Informationskampagne für die Bevölkerung gestartet, Test-Kits und Schutzkleidung erworben, Einkaufszentren geschlossen, den öffentlichen Personenverkehr eingestellt, Intensivbetten erschaffen. Kiew hat am 12. März als erste Stadt der Ukraine Quarantäne-Einschränkungen erlassen. Ja, diese Maßnahmen wurden kritisiert, aber die Tatsache, dass wir relativ früh die Einschränkungen, die nicht leicht sind, durchgesetzt haben, hat dazu geführt, dass es kein exponentielles Anwachsen der Infektionen gab und dass unser Gesundheitssystem eben nicht zusammengebrochen ist.
Sie sind selber in der Sowjetunion groß geworden, wissen, was es heißt, wenn Bürgerrechte beschnitten werden, und haben für die Unabhängigkeit der Ukraine gekämpft, für Freiheitsrechte. Wie schwer war es für Sie, in dieser Krise nun diese Rechte als Bürgermeister einzuschränken?
Offensichtlich fällt es einem nie leicht als Politiker, wenn man die Rechte der Bürger beschneiden muss. Selbst wenn es ausschließlich zu ihrem eigenen Nutzen ist. Ich weiß, wie wichtig diese Rechte sind. Gerade die Quarantäne, die Ausgangsbeschränkungen sind sehr unbeliebte Maßnahmen. Wie man aber gesehen hat, ist es mit das effektivste Instrument, um die Infektionsketten zu unterbrechen, die Kurve abzuflachen und Ausbrüche zu verhindern. Die Informationskampagne hat dazu geführt, dass die Menschen den Sinn der Eingriffe verstehen. Seit über zwei Monaten gebe ich täglich Konferenzen, ich erkläre die Entwicklungen, ich stelle mich Fragen, beantworte sie.
So kriegen die Menschen ein vollständiges Bild der Gesamtsituation. Ich bin sehr dankbar, dass die Bewohner von Kiew und anderer ukrainischer Städte der Stimme der Vernunft folgen und den Vorsichtsmaßnahmen fast ausschließlich Folge leisten. Ich bin sicher, dass es diesen Maßnahmen zu verdanken ist, dass es in Kiew, das fast vier Millionen Einwohner hat, nur gut 3000 bestätigte Corona-Fälle gibt. Alles, was wir getan haben, alle Maßnahmen, die wir ergriffen haben, geschahen, um das Virus daran zu hindern, sich unkontrolliert zu verbreiten. Es ist passiert, um die Gesundheit der Kiewer und ihre Leben zu schützen. Mir ist klar, dass unsere Reaktion auf die Bedrohung durch das Virus nicht perfekt war. Aber die Stadtverantwortlichen versuchen alles, um bestmöglich auf diese neue Situation zu reagieren. Keiner von uns hat Erfahrungen mit so einer Lage, für alle von uns ist dies absolutes Neuland.
Klitschko: “Mir ist klar, dass unsere Reaktion nicht perfekt war”
Wie gehen Sie persönlich mit der Krise um? Ihre Mutter etwa ist in einem Alter, in dem sie als Risikopatientin gilt.
Während der strikten Beschränkungen war auch meine Familie in Isolation. Jetzt tauschen wir uns aus, aber beachten dabei alle Vorsichtsmaßnahmen. Unter keinen Umständen kann und darf ich die Gesundheit meiner Familie in irgendeiner Art gefährden. Ich bin ja selber mittendrin in diesem Kampf gegen das Virus. Ich besuche die Krankenhäuser, ich treffe mich mit dem medizinischen Personal, treffe jeden Tag sehr, sehr viele Menschen. Es ist meine Verantwortung, dies zu tun, aber es ist auch meine Verantwortung, meine Familie zu schützen, indem ich alle Regeln strikt befolge.
Thema Verantwortung: In Ihrem Nachbarland Weißrussland nimmt man die Pandemie nicht sehr ernst, offizielle Stellen gaben etwa den Rat, viel Wodka zu trinken, das würde das Virus besiegen…
Die gesamte Welt sieht sich einer Situation gegenüber, in der es keine simplen Lösungen gibt. Man kann die Gefahren nicht einfach ignorieren und das Virus als Mythos abtun. Viele Länder gestehen heute sogar ein, dass sie die Einschränkungen früher hätten durchsetzen sollen – und müssen. Die Lage in Kiew ist stabil, weil wir früh die entsprechenden Maßnahmen ergriffen haben. Für mich gibt es nur eine Lösung: Diese Pandemie muss uns alle näher zusammenbringen, nur gemeinsam können wir das Virus besiegen. Es gibt da ein gutes Sprichwort: “Gib den Menschen einen gemeinsamen Feind, dann werden sie hoffentlich auch alle zusammenarbeiten, um diesen zu besiegen.”
Ist die Corona-Krise die größte Herausforderung Ihrer politischen Karriere?
Es ist für uns alle zur Zeit unzweifelhaft eine schwere Zeit. Wir arbeiten fast durchgehend 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche und müssen extrem komplexer Aufgaben Herr werden. Es ist eine Herausforderung, wie wir sie alle noch nie erfahren haben und gleichzeitig eine exzellente Chance, die Integrität und Kompetenz von jedem Einzelnen zu erkennen und zu durchschauen. In dieser Krise treten verborgene Potenziale, Talente und Stärken zutage, der Wille zu gewinnen wird offenbar. Wir werden diese Krise gemeinsam meistern, da bin ich mir absolut sicher. Dafür müssen wir unsere Anstrengungen und Fähigkeiten bündeln und uns gegenseitig unterstützen. In meinem Leben – gerade auch schon als Sportler – habe ich Krisen immer als Herausforderung verstanden. Ob diese Krise meine größte Herausforderung ist? Lassen Sie mich diese Frage bitte erst beantworten, wenn ich mich eines Tages hinsetze und meine Memoiren schreibe. (lacht) Ich denke, dass auf mich noch sehr, sehr viele Herausforderungen und Aufgaben im Leben warten. Und – da bin ich mir sicher – noch sehr viele Siege.
AZ