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Klitschko: “I’m right in the middle of the fight against the virus” (München Abendzeitung)

07.06.2020

In the exclusive AZ interview, the former world boxing champion, now mayor of Kyiv Vitali Klitschko talks about his fight in the metropolis against the Coronavirus, civil rights – and his goals (in German).

 

Vitali Klitschko (48) dominierte mit seinem jüngeren Bruder Wladimir die Schwergewichtsszene im Boxsport über ein gutes Jahrzehnt. Er war drei Mal Weltmeister (1999 bis 2000, 2004, 2008 bis zum Karriereende 2013). Schon während seiner Boxkarriere unterstützte er die Unabhängigkeitsbewegung in seiner Heimat Ukraine, seit 2014 ist er der Bürgermeister von Kiew.

AZ: Herr Klitschko, Sie waren drei Mal Box-Weltmeister, Ihre gesamte Karriere basierte unter anderem auf Disziplin. Wie sehr ärgert es Sie jetzt, da Sie seit 2014 der Bürgermeister von Kiew sind, dass sich ausgerechnet viele Freizeitsportler nicht an die Ausgangsbeschränkungen und Abstandsregeln in der Corona-Krise gehalten haben?
VITALI KLITSCHKO: Es ist leider so, dass viele Menschen immer noch des Irrglaubens sind, dass man gegen dieses Virus immun sein könnte, dass einen diese Infektion nicht erwischt. Sie ignorieren deswegen die grundlegendsten Vorsichtsmaßnahmen, um ihre eigene, aber auch die Gesundheit der anderen zu schützen. Sie nehmen all das leider nicht ernst. Das ist eine sehr gefährliche Einstellung. Genau dies ist einer der Gründe, warum ich während der täglichen News Briefings immer und immer wieder an die Einwohner von Kiew appelliere, dass sie die Vorschriften beachten müssen, dass sie weiter für sich und andere Verantwortung übernehmen müssen und dass sie bitte nicht ihre Gesundheit gefährden sollen. Man darf sich nichts vormachen: Covid-19 ist eine extrem gefährliche Krankheit, über die wir immer noch nicht sehr viel wissen.

Ihre Botschaft lautet also?
Nun, da es weiter weder einen Impfstoff noch ein Medikament gibt, das die Krankheit heilen kann, gibt es keine andere Option, als sich die Gefahren sehr bewusstzumachen und die Gesundheitsvorkehrungen zu akzeptieren und zu respektieren. Wir alle müssen verstehen und verinnerlichen, dass wir in einer neuen Welt leben, in der das Coronavirus schlicht Realität ist – und dadurch unser tägliches Leben im Moment verändert wird. Ich war selber fast mein ganzes Leben lang Profisportler, und ja, ich vermisse es, täglich meinen Sport so ausüben zu können, wie ich es gewohnt war. In der Zeit des Lockdowns musste ich daheim mein Training durchziehen. Jetzt, da die Parks und die Freizeitanlagen öffnen, kann ich endlich wieder im Freien Sport treiben, Rad fahren. Aber wenn Sie mich nach meiner Botschaft fragen: Eine ist sicher, nämlich dass Athleten, genau wie alle anderen Menschen, nicht vor dem Virus gefeit sind. Sie sollten sich um ihre Gesundheit und ihr Leben Sorgen machen und nicht so sehr, ob sie in diesen Zeiten etwas außer Form geraten. Es darf keine Ausnahmen geben, denn die Einschränkungen können nur wirksam sein, wenn sie für alle gelten und sich alle daran halten. Je mehr wir all dies befolgen, umso schneller werden wir alle wieder ein normales Leben führen.

Klitschko: “Der Ist-Zustand der Kiewer Krankenhäuser ist gut”

Sie haben viele Krankenhäuser besucht: Wie ist die aktuelle Lage in Kiew?
Es war mir wichtig, dass ich mir während der Pandemie ein eigenes Bild vor Ort mache. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass unsere Krankenhäuser im Moment mit Personal, aber auch Instrumenten gut ausgestattet sind, 14 Krankenhaus-Einheiten wurden als Corona-Behandlungszentren eingerichtet. Sie können 1.700 Erkrankte versorgen. 7.000 weitere Betten für Intensivpatienten können im Ernstfall zur Verfügung gestellt werden. In Kiew stehen zur Zeit 400 Beatmungsgeräte zur Verfügung. Die Stadt sorgt auch weiterhin dafür, dass die Schutzkleidung, die Medikamente und die Ausrüstungen an die städtischen Krankenhäuser und das medizinische Personal verteilt werden.

Wie wird das finanziert? Viele Städte weltweit stoßen bei der Corona-Krise an Ihre finanziellen Grenzen.
Ich lege Wert auf die Feststellung, dass die Stadt Kiew nahezu alle Kosten übernimmt, die durch die Coronavirus-Pandemie entstehen. Das beinhaltet den Kauf der Schutzmasken und -Kleidung, die ich angesprochen habe. Der kleine Teil, den die Stadt nicht abdecken kann, wird von gemeinnützigen Organisationen und Unternehmen, die sich ihrer sozialen Verantwortung mehr als bewusst sind, übernommen. Aber es ist so, dass es bei Transport und Beschaffung der medizinischen Güter aus dem Ausland immer wieder zu Problemen kommt. Und dass die Preise für diese Güter extrem in die Höhe getrieben wurden.

Wie würden Sie also die aktuelle Lage beschreiben?
Der Ist-Zustand der Kiewer Krankenhäuser, die dafür vorgesehen sind, sich mit Covid-19-Erkrankungen auseinanderzusetzen, ist gut. Aber die Vorräte schwinden schnell und wir versuchen, so viel Masken wie möglich zu besorgen und die Lager immer gut gefüllt zu haben. Es gibt Probleme, aber damit sind wir nicht allein. Auch in den USA, Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien gibt es Engpässe bei Schutzmasken. Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um diese Krise in den Griff zu bekommen. Wir versuchen auch nicht, die Probleme zu kaschieren oder kleinzureden. Es ist wichtig, ein ehrliches, realistisches und authentisches Bild der Lage zu zeichnen.

Klitschko: “Die Ärzte tun alles, um dem Tod jeden Menschen zu entreißen”

Sie sprachen Ihre Besuche in Krankenhäusern an. Sie haben selber ja so manche Schlacht geschlagen, aber was die Ärzte und Pfleger gegen diesen unsichtbaren Feind leisten, ist fast unmenschlich.
Das medizinische Personal macht alles Menschenmögliche und auch einiges, was eigentlich nicht mehr möglich ist, um die Leben der Erkrankten zu retten. All das in dem vollen Bewusstsein, dass sie ihr eigenes Leben gefährden, wenn sie den Patienten die bestmögliche Behandlung garantieren. Für sie ist dieses Virus ein Feind, den es zu besiegen gilt. Und sie tun alles – wirklich alles – dafür, dem Tod jeden Menschen zu entreißen. Wie gesagt: Das Personal riskiert sein Leben, um andere zu retten. Ich will nur eine Zahl nennen: 13 Prozent aller positiven Fälle in Kiew sind Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Das ist viel zu viel. Ich habe den allergrößten Respekt für die Ärzte und Pfleger, die an vorderster Front das Virus bekämpfen. Sie geben alles – und dies unter sehr schwierigen Umständen. Wir alle können ihnen helfen und beistehen, indem wir uns selber schützen und die Regeln einhalten. Wenn wir uns schützen, schützen wir auch die Ärzte.

Internationale Experten attestieren, dass Kiew vergleichsweise sehr gut auf die Corona-Krise vorbereitet war.
Wir haben die Situation in China, in Italien, in Spanien und in anderen Ländern, in denen das Virus am härtesten zugeschlagen hat, sehr genau beobachtet. Wuhan, wo die Pandemie ihren Anfang genommen hat, ist die Partnerstadt von Kiew. Die Gesundheitsexperten aus Wuhan haben uns ihre Erfahrungen und Expertise zur Verfügung gestellt. Wir haben die Situation, wie sie in Italien und Spanien herrschte, in Modellen auf Kiew übertragen und danach keine Zeit verloren. Wir haben eine Informationskampagne für die Bevölkerung gestartet, Test-Kits und Schutzkleidung erworben, Einkaufszentren geschlossen, den öffentlichen Personenverkehr eingestellt, Intensivbetten erschaffen. Kiew hat am 12. März als erste Stadt der Ukraine Quarantäne-Einschränkungen erlassen. Ja, diese Maßnahmen wurden kritisiert, aber die Tatsache, dass wir relativ früh die Einschränkungen, die nicht leicht sind, durchgesetzt haben, hat dazu geführt, dass es kein exponentielles Anwachsen der Infektionen gab und dass unser Gesundheitssystem eben nicht zusammengebrochen ist.

Sie sind selber in der Sowjetunion groß geworden, wissen, was es heißt, wenn Bürgerrechte beschnitten werden, und haben für die Unabhängigkeit der Ukraine gekämpft, für Freiheitsrechte. Wie schwer war es für Sie, in dieser Krise nun diese Rechte als Bürgermeister einzuschränken?
Offensichtlich fällt es einem nie leicht als Politiker, wenn man die Rechte der Bürger beschneiden muss. Selbst wenn es ausschließlich zu ihrem eigenen Nutzen ist. Ich weiß, wie wichtig diese Rechte sind. Gerade die Quarantäne, die Ausgangsbeschränkungen sind sehr unbeliebte Maßnahmen. Wie man aber gesehen hat, ist es mit das effektivste Instrument, um die Infektionsketten zu unterbrechen, die Kurve abzuflachen und Ausbrüche zu verhindern. Die Informationskampagne hat dazu geführt, dass die Menschen den Sinn der Eingriffe verstehen. Seit über zwei Monaten gebe ich täglich Konferenzen, ich erkläre die Entwicklungen, ich stelle mich Fragen, beantworte sie.

So kriegen die Menschen ein vollständiges Bild der Gesamtsituation. Ich bin sehr dankbar, dass die Bewohner von Kiew und anderer ukrainischer Städte der Stimme der Vernunft folgen und den Vorsichtsmaßnahmen fast ausschließlich Folge leisten. Ich bin sicher, dass es diesen Maßnahmen zu verdanken ist, dass es in Kiew, das fast vier Millionen Einwohner hat, nur gut 3000 bestätigte Corona-Fälle gibt. Alles, was wir getan haben, alle Maßnahmen, die wir ergriffen haben, geschahen, um das Virus daran zu hindern, sich unkontrolliert zu verbreiten. Es ist passiert, um die Gesundheit der Kiewer und ihre Leben zu schützen. Mir ist klar, dass unsere Reaktion auf die Bedrohung durch das Virus nicht perfekt war. Aber die Stadtverantwortlichen versuchen alles, um bestmöglich auf diese neue Situation zu reagieren. Keiner von uns hat Erfahrungen mit so einer Lage, für alle von uns ist dies absolutes Neuland.

Klitschko: “Mir ist klar, dass unsere Reaktion nicht perfekt war”

Wie gehen Sie persönlich mit der Krise um? Ihre Mutter etwa ist in einem Alter, in dem sie als Risikopatientin gilt.
Während der strikten Beschränkungen war auch meine Familie in Isolation. Jetzt tauschen wir uns aus, aber beachten dabei alle Vorsichtsmaßnahmen. Unter keinen Umständen kann und darf ich die Gesundheit meiner Familie in irgendeiner Art gefährden. Ich bin ja selber mittendrin in diesem Kampf gegen das Virus. Ich besuche die Krankenhäuser, ich treffe mich mit dem medizinischen Personal, treffe jeden Tag sehr, sehr viele Menschen. Es ist meine Verantwortung, dies zu tun, aber es ist auch meine Verantwortung, meine Familie zu schützen, indem ich alle Regeln strikt befolge.

Thema Verantwortung: In Ihrem Nachbarland Weißrussland nimmt man die Pandemie nicht sehr ernst, offizielle Stellen gaben etwa den Rat, viel Wodka zu trinken, das würde das Virus besiegen…
Die gesamte Welt sieht sich einer Situation gegenüber, in der es keine simplen Lösungen gibt. Man kann die Gefahren nicht einfach ignorieren und das Virus als Mythos abtun. Viele Länder gestehen heute sogar ein, dass sie die Einschränkungen früher hätten durchsetzen sollen – und müssen. Die Lage in Kiew ist stabil, weil wir früh die entsprechenden Maßnahmen ergriffen haben. Für mich gibt es nur eine Lösung: Diese Pandemie muss uns alle näher zusammenbringen, nur gemeinsam können wir das Virus besiegen. Es gibt da ein gutes Sprichwort: “Gib den Menschen einen gemeinsamen Feind, dann werden sie hoffentlich auch alle zusammenarbeiten, um diesen zu besiegen.”

Ist die Corona-Krise die größte Herausforderung Ihrer politischen Karriere?
Es ist für uns alle zur Zeit unzweifelhaft eine schwere Zeit. Wir arbeiten fast durchgehend 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche und müssen extrem komplexer Aufgaben Herr werden. Es ist eine Herausforderung, wie wir sie alle noch nie erfahren haben und gleichzeitig eine exzellente Chance, die Integrität und Kompetenz von jedem Einzelnen zu erkennen und zu durchschauen. In dieser Krise treten verborgene Potenziale, Talente und Stärken zutage, der Wille zu gewinnen wird offenbar. Wir werden diese Krise gemeinsam meistern, da bin ich mir absolut sicher. Dafür müssen wir unsere Anstrengungen und Fähigkeiten bündeln und uns gegenseitig unterstützen. In meinem Leben – gerade auch schon als Sportler – habe ich Krisen immer als Herausforderung verstanden. Ob diese Krise meine größte Herausforderung ist? Lassen Sie mich diese Frage bitte erst beantworten, wenn ich mich eines Tages hinsetze und meine Memoiren schreibe. (lacht) Ich denke, dass auf mich noch sehr, sehr viele Herausforderungen und Aufgaben im Leben warten. Und – da bin ich mir sicher – noch sehr viele Siege.

AZ